von I. G.-L.
Reisetagebuch Island 03.10.2021 – 09.10.2021, IGL
Schon im Februar 2020 hatte ich mich für einen Kurs zum
Thema Diversität beim Institut InterCultural Iceland in
Reykjavik angemeldet. Zwei Kurse standen zur Auswahl und
ich hatte mich nach dem Lesen der Kursbeschreibung und
den Berichten für den Kurs „Diverse Society –
Diverse Classrooms“ entschieden. Dieser Kurs sollte im
Oktober 2020 stattfinden und so habe ich alles in die Wege
geleitet. Doch mit einer Sache hatte ich nicht gerechnet –
CORONA.
Dieses lästige Virus brachte alles durcheinander.
Nicht nur unseren Alltag, auch alle Pläne für den Sommer und
den Herbst. Nach diversen E-Mails mit der Institutsleiterin
Guðrún Pétursdóttir versprach sie, den Kurs im Oktober 2021
noch einmal anzubieten. Und siehe da:
ICH BIN JETZT IN ISLAND! Wer hätte das gedacht?
Island, sagenumwobene Insel im atlantischen Nordmeer. Brunhilde aus dem Nibelungenlied kam von hier, die Asche des Vulkans Eyjafjallajökull legte vor zehn Jahren den Flugverkehr über Europa lahm und die isländische Fußballnationalmannschaft erstürmte die Herzen aller Fans bei der WM 2018.
Was ist das für ein Land, von dem man nicht viel weiß? Und dort soll es einen interessanten Kurs zum Thema Diversität geben? Ich bin gespannt und sehr neugierig.
Am Sonntag, dem 03. Oktober 2021, ist um 16:00 Uhr Treffpunkt am Busbahnhof BSI in Reykjavik. Langsam trudeln die Teilnehmer ein und es gilt die Parole „Erasmus?“ Neugierig beäugen sich alle, schließlich wollen wir die nächsten 8 Tage miteinander verbringen und gemeinsam etwas lernen.
Die 25 Kursteilnehmer kommen aus Belgien (2) Deutschland (6), Italien (4), Litauen (4), Spanien (2) und Rumänien (7). Sie arbeiten an Schulen als Schulleiter oder Lehrer, als Sozialarbeiter in Brennpunktvierteln ihrer Stadt, als Koordinator an einer TU. Ich bin die Einzige aus dem VHS-Bereich. Allein an der Zusammensetzung der Gruppe zeigt sich Diversität und wir werden alle in einem Klassenzimmer sitzen und zusammen arbeiten.
Zunächst geht es der Küste mit ihrer eindrucksvollen Landschaft entlang nach Borgarnes, wo der Kurs stattfindet. Borgarnes ist eine kleine Stadt und liegt am südwestlichen Zipfel einer Halbinsel am Borgarfjördur.
Gleich nach der Zimmerverteilung treffen wir uns im Schulungsraum. Eine klassische Vorstellrunde entfällt, da jeder eine Teilnehmerliste hat und daraus ersehen kann, wer woher kommt.
Stattdessen beginnt die Kursleiterin Guðrun mit dem Thema „class atmosphere“ und wie man diese beleben kann. Denn wie oft wird der Unterricht bei einer stupiden „Berieselung“ langweilig und die Schüler driften mit ihren Gedanken ab. Da hilft nur Aktivität und die heißt in diesem Fall „Bingo“. Das Spiel kennt jeder und auch hier ist das Prinzip dasselbe. In einem 5×5 Kästchen großen Feld stehen 25 verschiedene Fragen (die Kästchen/Fragenanzahl richtet sich nach der TN-Anzahl). Die Fragen sind zwar allgemein gehalten, aber auf einer persönlichen Ebene. Z.B.: „Spielst du ein Musikinstrument?“, „Hast du schon an einem Marathon mitgemacht?“ oder „Magst du Katzen lieber als Hunde?“ Jeder Kursteilnehmer bekommt ein Arbeitsblatt mit den Fragen und muss allen anderen die Fragen stellen. Wenn ein Mitschüler eine Antwort bejaht, wird dessen Name in das Kästchen geschrieben und man muss den Nächsten befragen. Stehen in fünf Kästchen quer oder längs oder diagonal jeweils ein anderer Name, ruft man Bingo. Ziel dieser Interaktivität ist es, sehr schnell mit allen Kursteilnehmern ins Gespräch zu kommen. Und tatsächlich wusste man in kürzester Zeit schon einiges über die Kurskollegen und konnte beim anschließenden Abendessen ein Gespräch anknüpfen. Ganz schnell war eine angenehme Atmosphäre entstanden und man „fremdelte“ nicht lange rum. Das war ein toller Einstieg in diese Kurswoche.
Die Diversität unserer Gesellschaft ist in den letzten Jahren sehr viel facettenreicher geworden und spiegelt sich auch in unseren Klassenzimmern wider. Traditionelle Unterrichtsmethoden können nicht mehr so eingesetzt werden, wie viele Lehrende es bisher gewohnt waren/sind. Vielen der ausländischen Lernenden fällt der neue Schulalltag schwer und das pädagogische Ziel ist es, sie mitzunehmen, um ihnen eine Chance für ihre Zukunft zu geben.
Die Lernenden kommen aus den verschiedensten Kulturen und haben unterschiedliche Bildungshintergründe.
Dieses Seminar „Diverse Society – Diverse Classrooms“ beschäftigt sich in erster Linie damit, den Teilnehmenden diverse Unterrichtsmethoden vorzustellen, um vor allem die soziologischen Unterschiede im Klassenzimmer aufzufangen, auf sie einzugehen und somit eine bessere Integration zu ermöglichen.
Auch wenn Island so abgelegen scheint, sind seit den 70er- und 80er-Jahren viele Migranten nach Island gekommen, um für längere Zeit oder aber auch dauerhaft zu bleiben. Sehr schnell hat man gemerkt, dass man mit den traditionellen (isländischen) Unterrichtsmethoden in der Schule keinen Erfolg hatte. In vielen Ländern Europas wurden in dieser Zeit zahlreiche „revolutionäre“ Unterrichtsmethoden, Didaktiken und pädagogische Ansätze entwickelt, die auch in Island ausprobiert wurden.
Die besten Ergebnisse wurden mit „intercultural education“ erzielt, wobei man auch darauf hinweisen muss, da zwischen den einzelnen Reformen 15 – 20 Jahre lagen.
Spricht man über „Interkulturelle Bildung“ muss man doch zunächst definieren, was Kultur bedeutet. Ein ganzer Katalog an Stichwörter wurde zusammengestellt und nach langer Diskussion kam die Gruppe zum Konsens: „There are many individuel cultures, but no specific culture of a country“.
Zum Abschluss dieses Themas wurde zunächst in Partnergesprächen diskutiert, was der Lehrende als Respektlosigkeit empfindet. Im Plenum musste man anschließend die Argumente des Partners vortragen. Sehr schnell wurde klar, dass über die europäischen Grenzen hinweg der Mangel an Disziplin, das Nicht-Zuhören und das Nicht-Miteinandersprechen zu Unzufriedenheit, Verärgerung und Frustration führen. Dies ist allerdings keine Einbahnstraße, sondern gilt für alle Beteiligten.
Eine kleine interaktive Übung im Anschluss demonstrierte uns, wie wichtig das Zuhören ist. In einem „Karussell“ (Innenkreis-Außenkreis) wurde so lange über ein bestimmtes Stichwort (z.B. Film, Essen, Freizeit, Sport etc.) gesprochen, bis man eine Gemeinsamkeit gefunden hatte. Für jedes Stichwort hatte man eine Minute Zeit. Dieses Karussell wurde sowohl verbal als nonverbal durchgeführt. Mit meinen Gesprächspartnern fanden sich stumm viel schneller die Gemeinsamkeiten.
Interkulturelle Bildung braucht unterschiedliche Kompetenzen und Fähigkeiten. Die wichtigsten sind „communication skills“, „cooperative skills“ und „flexibility“. Diese Drei werden als die interkulturellen Kompetenzen/Fähigkeiten definiert. Mit ihnen ist es einfacher, in einer diversen Gesellschaft zu leben, und sie zielen darauf ab, selbstständig und eigenverantwortlich zu arbeiten. Um die Lernenden mit diesen Kompetenzen schon sehr früh vertraut zu machen, gibt es verschiedene Methoden, deren Ziel es ist, im Team eigenverantwortlich zu arbeiten. Dies ist der rote Faden aller Gruppenarbeit-Methoden, die in der interkulturellen Bildung umgesetzt werden.
Eine dieser Methoden ist „The Jigsaw Puzzle Method“ – Das Puzzle.
Die Jigsaw Puzzle Methode
Die ganze Klasse bekommt eine Hauptaufgabe
+ Der Lehrer teilt die Klasse in Gruppen (à 4 TN).
+ Jedes Gruppenmitglied hat einen Buchstaben (A- D).
+ A-D bekommen je einen Briefumschlag mit einer
Aufgabe.
+ Nun treffen sich alle gleichen Buchstaben und erarbeiten die
Lösung ihrer Aufgabe.
+ Dann kehren die Buchstaben-TN in ihre ursprüngliche
Gruppe zurück und tragen ihre Informationen zusammen und
lösen so die Hauptaufgabe.
Um Gruppenarbeiten erfolgreich zu machen, ist es sinnvoll, den Gruppenmitgliedern Rollen zuzuweisen. Dabei ist es wichtig, darauf zu achten, dass die Rollen untereinander immer wieder getauscht werden.
1 Der Organisator liest die Aufgabenstellung vor und vergewissert sich, dass alle die Aufgabe verstanden haben.
2 Der Reporter notiert alle Antworten und zusammengetragenen Informationen.
3 Der Materialmanager besorgt alle Materialen, die für die Präsentation der Lösung/Aufgabe gebraucht werden.
4 Der Zeitplaner behält die Zeit im Auge, die für die Lösung der Aufgabe vorgegeben ist.
5 Der Motivierer feuert an/motiviert seine Gruppenkollegen bei der Lösung der Aufgabe.
So hat jedes Gruppenmitglied die Chance, sich gleichberechtigt an der Arbeit zu beteiligen (Rotation). Wie oft ist es doch vorgekommen, dass einer alles macht, oder keiner richtig Lust hat, mitzuarbeiten und die Arbeit dann an einem einzigen Gruppenmitglied hängen bleibt. Diese Zusammenarbeit nennt man „cooperative work“. Aber auch der Lehrende bekommt eine Rolle zugewiesen und muss
– genaue Arbeitsanleitungen geben,
– die Teilnehmenden in Gruppen einteilen und ihnen
– die Rollen zuweisen,
– für eine gute Tischgröße sorgen (zu viel Platz ist hinderlich) und bei den Aufgaben
– beratend unterstützen.
Bei dieser Arbeit ist es sehr wichtig, dass der Lehrende loslässt, die „Nabelschnur“ trennt und den Schülern Vertrauen entgegenbringt, dass sie der Aufgabe gewachsen sind.
Allerdings bedeutet Gruppenarbeit nicht immer ausschließlich cooperatives Lernen. Die Kursleiterin wiederholte immer wieder den Satz: „No single teaching method is so good that it suits every student all the time.“
Beim „cooperative learning“ ist es wichtig, dass der Lehrende die Aufgabenstellung nicht als klassische Frage (Wie viele Hauptstädte gibt es in Europa?), sondern eher als „Motivationsfrage“ (Was meinst du, wie viele Hauptstädte Europas kennst du?) stellt.
Während der nächsten Seminartage wurde die Aufgabenstellung für Gruppenarbeiten sehr viel komplexer und auch die Methoden der Präsentation. Wir Kursteilnehmenden mussten an die Arbeitsweise des „cooperative learning“ herangeführt werden. Ziemlich schnell wurde uns klar, dass Gruppenarbeit zwar bekannt ist und wir sie schon diverse Mal mit unseren Lernenden durchgeführt haben. Aber so regelmäßig, konsequent und intensiv wie uns das hier in etlichen Beispielen (Film- und Videoaufnahmen von Guðrun Pétursdóttir) gezeigt wurde, haben die meisten der Kursteilnehmenden das dann doch nicht gemacht. Gut funktionierende Gruppenarbeit, die alle kulturellen und soziologischen Unterschiede vereinen soll, muss richtig erarbeitet werden, um erfolgreich zu sein.
Die Methode, mit der wir angefangen haben, ist das „Diamond Ranking“.
Jede Gruppe erhält eine Aufgabe. Dazu muss sie auf neun Karten Schlagwörter notieren, die in einer Diamantenform gelegt werden. Allerdings haben unsere fünf Gruppen auch die Diamantenform neu definiert.
Am nächsten Tag diskutierten wir über die unterschiedlichsten Unterrichtssysteme unserer Heimatländer und wie schwierig es sein kann, neue Unterrichtsmethoden der Allgemeinheit, den Schulleitern, den Eltern und den Schülern näher zu bringen. Es wurden tolle Präsentationen erarbeitet und dem Plenum vorgestellt. So manch schauspielerisches Talent kam zu Vorschein und es wurde viel und herzlich gelacht. Rechts sehen wir eine Collage der begleitenden Poster, die für die kleinen Theaterstücke als Kulisse dienten.
Grundsätzlich wurde viel mit Papier und Farben gearbeitet, was von allen Arbeitsgruppen positiv bewertet wurde.
Auch hier waren wir wieder zu jeweils neuen Gruppen zusammengestellt worden.
Es war eine Bereicherung, so die einzelnen Kursteilnehmenden kennenzulernen.
Eine weitere Methode für Gruppenarbeit lernten wir am darauffolgenden Tag kennen. Es wurden Paare gebildet, die zum „Speed Dating“ andere Paare trafen. Jedes Paar bekam jeweils eine Gruppenarbeitsmethode auf einem Arbeitsblatt zur Verfügung und musste diese innerhalb von 10 Minuten lesen und verstehen. Auch da kann man sich die Arbeit aufteilen und man muss sehr schnell und flexibel sein, sich abzusprechen. Anschließend musste jedes Paar innerhalb von 5 Minuten dem anderen Paar die Methode erklären. Dann wurden die Arbeitsblätter getauscht und ein Paar ging zu einem neuen Paar. Auch hier mussten die Methoden gegenseitig erklärt werden und im Anschluss die Arbeitsblätter ausgetauscht werden. Nach ca. 60 Minuten hatte man auf diese Weise verschiedene Möglichkeiten für „cooperative learning“ kennengelernt. Die Methode, die jedes Paar zuletzt vorgestellt hatte, sollte nun zu einem frei gewählten Thema für die nächste Unterrichtsstunde umgesetzt werden.
Hier einige der Methoden:
Round Robin
Zone of Relevance
Snowballing
Corners
Odd one out
Fact or opinion
Consequence Wheel
Clustering
Send a problem
Diamond Ranking
Wir haben wirklich viele unterschiedliche Themen behandelt und wurden jedes Mal zu einer neuen Gruppe zusammengestellt. Jede Gruppe bekam ein aktuelles Thema und musste sich wirklich etwas Kreatives einfallen lassen. Denn Gruppenarbeit bedeutet auch Kreativität. Als Lehrender muss man von seinen eigenen Vorstellungen zurücktreten und die Teilnehmenden „machen“ lassen. Die Ergebnisse sind so vielfältig. So vielfältig wie wir alle sind.
Bei diesem Projekt ging es darum, dass ein paar Hochschulabgänger ein Non-profit-Unternehmen gründen sollten, das ein nachhaltiges Produkt auf den Markt bringt, welches es bisher noch nicht gegeben hat. Nach einer heißen Diskussion mit aberwitzigen Ideen, die alle im Sand verliefen, hatten wir die zündende Idee, organische Schuhe zu entwickeln, die sich nach ca. 6 Monaten selbst auflösen und kompostieren. Als Material sollten Pflanzenfasern und Stärke zur Bindung verwendet werden, für die individuelle Gestaltung kann man getrocknete Blüten und Blätter verwenden.
Es war so ein witziges Projekt und wir hatten viel Spaß bei der Entwicklung der Präsentation und ihrer Umsetzung. Auch hier, wie all die anderen Male, hatte jedes Gruppenmitglied seine Rolle erhalten und musste sich daran halten. In dieser Gruppe hatte ein Kollege, mit dem ich schon zuvor in einer anderen Gruppe zusammen war, eine für ihn ganz neue Rolle bekommen und war richtig darin aufgegangen. Das war für ihn ein Aha-Erlebnis und zum Ende sagte er voller Überzeugung, er wolle das gleich bei der nächsten Gelegenheit in seiner Klasse ausprobieren.
Der Abschluss aller Methoden war ein Projekt, bei dem wir für eine imaginäre Klasse mit Hilfe der Jigsaw + -Strategie einen Unterrichtsentwurf entwickeln sollten. Für alle Gruppen gibt es wiederum ein Hauptthema.
Basis ist die Jigsaw-Methode, die bereits beschrieben wurde. Dieses Mal allerdings waren die Aufgaben etwas komplexer, da es zwei Aufgabenbereiche (A und B) gab. In der Aufgabe A mussten zunächst Themenfelder mit einem Fragenkatalog erarbeitet werden. Informationen wurden wieder zusammengetragen und die Fragen beantwortet. Für die B-Aufgabe sollten Präsentationen vorbereitet werden. Es konnten Plakate sein, Videos, Werbematerial etc.
Jede unserer fünf Gruppen musste sich ein eigenes Thema ausdenken und Aufgabenfelder für die A- und die B-Aufgabe erarbeiten.
Aber in dieser Woche des „cooperative learning“ wurde noch mehr gemacht. Wunderbare Gespräche mit den Kollegen aus den anderen Ländern zu unterschiedlichsten Themen.
Gemeinsam gingen wir auf die Suche nach Aurora, wir wanderten auf einem erloschenen Krater, auf dem seit seinem letzten Ausbruch sich langsam Moos entwickelt hat. Ein traumhafter Wasserfall bei strahlendem Herbstwetter faszinierte uns. Und auf den Spuren von Neil Armstrong hinterließen wir unsere Fußabdrücke in einem Lavafeld. War das Wüste, Mond oder Island? Eine wunderschöne, vielfältige Landschaft, die so abwechslungsreich ist, dass man aus dem Staunen nicht mehr herauskommt.
Diese Woche war eine wunderbare Erfahrung und ich möchte sie nicht missen. Ich bin voller Eindrücke nach Hause gekommen und brauche sicherlich noch einige Zeit, diese zu verarbeiten. Vielen Dank, dass ich diese Chance hatte.